Nicht alles war schlecht in der DDR, heißt es wieder häufiger. Und der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie verschwimmt. Als ob die Wende ganz von selbst kam.

Schon wieder Tag der Einheit. Nationale Gewissenserforschung: Ist die innere Einheit vollzogen, hören wir einander auch zu? Als gäbe es in Italien oder Frankreich, Großbritannien, den USA oder sonst einem großen westlichen Land keine strukturschwachen Gebiete, keine ökonomischen, politischen und kulturellen Gegensätze. Vor allem aber, als sei die Einheit ein Wert an sich. Das ist sie nicht und war sie nie. Für Konrad Adenauer und Willy Brandt, Helmut Kohl und Angela Merkel war die Einheit nur in der Freiheit erstrebenswert. Deshalb sollte am 3. Oktober eher gefragt werden, wie es um die deutsche Demokratie bestellt ist.

Ein weites Feld. Demokratie ist ein work in progress. Selbstzufriedenheit ist ihr Tod. Jenseits selbstgefälliger “wie herrlich weit haben wir’s doch gebracht”-Benebelung gilt es aber, am grundsätzlichen – marxistisch gesprochen am qualitativen – Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie festzuhalten und sich die Bedingungen zu vergegenwärtigen, unter denen die – unvollkommene, verbesserungswürdige, nervige und gerade darum wertvolle – Demokratie siegen konnte.

Und um diese Klarheit steht es nicht gut. Links wie rechts wird der Unterschied zwischen der SED-Diktatur und der Demokratie der Berliner Republik kleingeredet, relativiert oder gar geleugnet. Es ist überdies ein Triumph der deutschen Einheit, dass links wie rechts auch zu wenig darüber gesprochen wird, dass die Demokratie 1989 wie 1918 und 1945 nur infolge einer Niederlage errungen werden konnte: 1918 des Kaiserreichs, 1945 des Hitler-Reichs, 1989 des Sowjetreichs; und dass in allen drei Fällen die USA entscheidenden Anteil am Niederwerfen dieser illiberalen Imperien hatten. Die “friedliche Revolution” in Ehren; aber sie war nur möglich, weil der Westen den Kalten Krieg gewann.

Die DDR, ein Freilandversuch? Quatsch!

Reden wir zuerst von der linken oder linksliberalen Verniedlichung der DDR-Diktatur. Ein paar Beispiele:

In ihrem neuen Buch Tausend Aufbrüche unternimmt die Historikerin Christina Morina der Ankündigung Ihres Verlags zufolge “eine bahnbrechende Neubewertung” der Geschichte. “Sie widerlegt die gängige Erzählung, 1989 sei eine stillgelegte Zivilgesellschaft im Osten mit einer vorbildlichen Demokratie im Westen zusammengeprallt.” Stattdessen zeige sie: “Auch in der DDR gab es lebhafte Ideen von demokratischer Teilhabe, die nach dem Mauerfall aber kaum mehr zählten.” Nun, ob irgendeine “gängige Erzählung” die Demokratie der Kohl-Ära als “vorbildlich” hinstelle, darf man bezweifeln; dass es “lebhafte Ideen demokratischer Teilhabe” im Osten gab, mag man hingegen glauben; nur mussten sie vor dem Mauerfall dort, wo es 2,3 Millionen Parteimitglieder, an die 200.000 Stasi-Informanten und ein Heer von Mitläufern gab, Ideen bleiben

Eine andere Historikerin, Katja Hoyer, gibt in ihrem Buch Diesseits der Mauer vor, das Leben in der DDR mit den Augen derjenigen zu beschreiben, die dort lebten. In Wirklichkeit geht es um eine Relativierung der Diktatur. Wie ihr Verlag sagt, will sie nicht den “Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur” legen; denn “die Mauer schränkte die Freiheit ein, aber andere gesellschaftliche Schranken waren gefallen”. Alles war bekanntlich nicht schlecht; diesen Satz hörte man nach 1918, nach 1945, nach 1989, und er dient immer der Leugnung der Tatsache, dass es nun einmal, wie Theodor Adorno sagte, kein richtiges Leben im Falschen gibt.

In der britischen Zeitung The Guardian schrieb Hoyer anlässlich des Erscheinens einer englischen Ausgabe ihres Buches, die Kultur der DDR sei wieder “cool”. Und zwar weil die DDR ein “Freilandversuch für politische, ökonomische und soziale Alternativen” gewesen sei. Quatsch! Nichts war frei, nichts entging dem wachsamen Auge der Vorhut der Arbeiterklasse und der Stasi, Schild und Schwert der Revolution; “Alternativen” zur Diktatur des Proletariats galten als konterrevolutionär und wurden entsprechend behandelt.

[…]

Hätte es im Kreml freilich einen Deng Xiaoping gegeben statt eines Michail Gorbatschow – vielleicht stünde die Mauer trotz alledem noch heute, vielleicht sogar weiter westlich, und so manche linken und rechten Relativierer wären brave Funktionäre einer sich auf die Werte der deutschen Kultur berufenden, übrigens fast rein weißen und von lästigen Genderdiskussionen ebenso wie von Parteiengezänk und staatskritischen Medien freien Gesamtdeutschen Pseudodemokratischen Republik.

  • hoshikarakitaridia@sh.itjust.works
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    1 year ago

    Meine Eltern gehören zu denen die immer gesagt haben “so schlimm war die DDR dann auch wieder nicht”. Allerdings ging es dort darum, dass sie nicht wegen der DDR, sondern trotz DDR ein einigermaßen gutes Leben hatten.

    Ich glaube dass sowieso die meisten damit meinen dass du in der DDR dank der Bürger auch ein schönes Leben haben konntest.

    • Haven5341@feddit.deOP
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      1 year ago

      Meine Eltern gehören zu denen die immer gesagt haben “so schlimm war die DDR dann auch wieder nicht”. Allerdings ging es dort darum, dass sie nicht wegen der DDR, sondern trotz DDR ein einigermaßen gutes Leben hatten.

      Ich verstehe schon, was Deine Eltern meinen aber man musste dann halt auch die Augen davor verschließen, dass es dem Nachbarn evtl. nicht so gut ging, wenn er bei der Scheiße nicht mitmachen und seine Freiheit haben wollte. Selbst die olle Wagenknecht durfte aus politischen Gründen nicht studieren,

      Die in der DDR übliche vormilitärische Ausbildung für Schüler empfand sie nach eigener Aussage als extrem belastend: Sie konnte nichts mehr essen, was ihr von den Behörden als politischer Hungerstreik ausgelegt wurde. Zur Begründung des daraufhin erteilten Studienverbots hieß es, sie sei „nicht genügend aufgeschlossen […] fürs Kollektiv“

      https://de.wikipedia.org/wiki/Sahra_Wagenknecht

      Ein guter Bekannter von mir hat vor der Wende rüber gemacht. “Republikflüchtig”. Das Risiko ist er nicht eingegangen weil das Leben in der DDR so toll für ihn war.

      Kein Mensch bezweifelt, dass Du im prívaten in der DDR schöne Momente haben konntest. Und verhungert bist Du da auch nicht. Trotz Mangelwirtschaft. Das ist irgendwie selbstversändlich. Das konntest du selbst unter den Nazis haben, wenn Du ins politische (und rassistische) Bild gepasst hast und ich könnte wetten, dass selbst in Nord-Korea Menschen lachen. Darum geht es ja im Endeffekt (und im Artikel) nicht, sondern eher um

      33 Jahre nach dem Ende dieser Diktatur jedoch erscheint der Mauerfall in manchen Erzählungen nicht als Befreiung, sondern als Absage an eine “sozialistische Utopie”, an “lebendige Ideen demokratischer Teilhabe”, an “alternative Freilandversuche”, von einer “coolen” Kultur ganz zu schweigen.

      und

      Auf der Rechten nimmt die Relativierung die Gestalt einer Delegitimierung der heutigen Demokratie an, wenn etwa die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung mit der DDR-Diktatur verglichen werden; wenn unterstellt wird, die “Altparteien” würden gegen das Volk regieren, wie ehedem die DDR-Blockparteien; der “linksgrüne” Zeitgeist praktiziere eine “woke” Meinungsdiktatur wie früher die SED; die Ampel wolle im Namen der Ökologie die Bürger ruinieren und enteignen, wie es die Kommunisten taten, und dergleichen mehr.

      Ich würde mich selbst als politisch links-liberal einordnen aber ich würde nie auf die Idee kommen an der DDR (oder am Realsozialismus an sich) irgendwas positives zu sehen. Und das bezieht sich natürlich nicht auf das Private. Natürlich haben Menschen in der DDR sich verliebt, haben gefeiert und haben auch schönes erlebt.

  • Guildo@feddit.de
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    1 year ago

    Hätte, hätte, Fahrradkette. Alternative Geschichtsschreibung ist unseriös.